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Auf dem Weg um die Welt


​...und zu allem was dazwischen liegt

Ayder - ein trauriger Abschied

14/7/2017

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Wir erreichen Yozgat, eine Kleinstadt irgendwo im Nirgendwo. Weiter geht es nicht per Bus auf unserer Reise nach Bogaskale. Ausgangsort für die Besichtigung von Hattusa, der ehemaligen Hauptstadt der Hethiter. Gemessen an den Verkehrswirren des Bayramfestes, ausgehend von Göreme, war es für uns das realistischste Ziel. Ein dankbarer Zufluchtsort, zumindest für 2 Nächte. Doch nun ist es auch schon wieder halb elf. Mit Mustafa, unserem neuerlichen Gastwirt haben wir einen Treffpunkt am Glockenturm vereinbart, wo auch immer der sein mag. Nach dem türkischen Namen des Glockenturms zu fragen, haben wir schlicht vergessen. So stehe ich nun in der Halle des örtlichen Busbahnhofes und vor mir hat sich eine Meute Jugendlicher versammelt. Diese hat der Hallenälteste zusammengetrommelt in der Hoffnung mir gemeinschaftlich helfen zu können. Also gestikulierte ich nun, ganz dem Tabu Spiel gleich, 'Turm' und 'Uhr' bis sich die Gruppe auf ein Wort einigen kann. Das nehme ich! Gilt es doch auch, schnell die Lösung herbeizuführen, bevor der Hallenälteste einem der Jugendlichen an die Gurgel springt. Denn der hier scheint unter allen Beteiligten am aufgeregtesten. Im Drang mir zu helfen wird er bei Falschraten beinahe handgreiflich. Nachdem ich das geratene Wort mehrfach wiederhole, als wüsste ich genau, was sie meinten, deutet mir der Hallenälteste bestimmt in eine Richtung. So laufen wir schwer bepackt durch die Nacht, wobei in der Stadt selbst noch die Hölle los ist. Mitten auf dem Gehweg stellt sich uns ein Mann vor. Dies tut er so unvermittelt, dass ich ihn gleich links liegen lasse. Ich kann ja auch nicht auf jeden Menschen reagieren, der sich mir vorstellt. Stattdessen habe ich eine Mission, und die heißt 'Glockenturm'. Der ist weit und breit noch nicht zu sehen. Xenia jedoch, die wie so oft in einem 5 Meter Sicherheitsabstand läuft, weiß die Zeichen gleich zu deuten. 'Mustafa?', fragt sie erneut. Ja, wiederholt er, er sei es. Geschafft! Dann haben wir wirklich mitten im Bayram von Göreme nach Bogaskale gefunden. Zumindest beinahe, aber die restlichen 40 Kilometer durften nun nur noch das kleinste Problem darstellen.
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Im Auto selbst sitzt Ahmed. Ein, wie alle Türken, vordergründig freundlicher Mensch, der sich nach über 3 Wochen Reisen als unser erster Erdoganfanatiker herausstellt. Ein Thema, bei dem er nicht ruhig bleiben kann und wir, bei zunehmender Fahrt auch nicht. Obwohl wir uns, ganz deutsch, ganz merkeltreu, in Zurückhaltung üben. Haben wir doch auch nicht vor, uns die Türen vor der Nase zuzuschlagen. Zu diesem Zeitpunkt sind wir gerade einmal 10 Kilometer gefahren. Ahmed ist, das betont er, überhaupt nicht sauer auf uns persönlich, worüber wir mindestens erleichtert sind. Doch scheint es, dass bei der Erklärung seines Grolls gegenüber Europa, man nicht nur sein Heimatland, sondern viel mehr ihn ganz persönlich, nicht in die EU gelassen hat. Und die EU, das stellt er gleich anfangs richtig, ist keinesfalls ein Verbund verschiedener Länder Europas. Nein, die EU ist Deutschland, die EU ist Merkel. Als hätte man zwischenzeitlich vergessen, welches unserer Heimatländer von einem neuerlichen Despoten regiert wird. Mustafa, sitzt derweil ruhig in seinem Sitz. Auf die Thematik angesprochen, antwortet er überlegt und dosiert. Erdogan sei verrückt, daran gebe es nur wenig Zweifel. Ahmed erwidert, Mustafa sei verrückt. So was könne man doch nicht sagen, angesichts der Verdienste dieses Mannes. Dann lachen sie beide, morgen geht es sicher wieder um Fußball. Doch für's erste, stellt Ahmed klar, habe sich die Lage für die Türken spürbar gebessert. Man habe ihnen ihren Stolz wiedergegeben, was für ein überstrapazierter Begriff. Seine Ansichten, gewachsen im Zorn der Ablehnung, verstehen wir nur dahingehend, dass wir die Rolle Deutschlands als eine Instanz ablehnen, die sich anderen Regierungen moralisch überlegen fühlt. So hätte man sich den Patienten Türkei und das Gemüt seiner Bürger einmal genauer anschauen sollen, bevor man ihn mit dem Beitritt zu ködern versucht. Und die neue Türkei, die stolze Türkei, brauche Europa nicht. Ansichten, die uns auch nicht neu sind, untermauert von dem folgenden arttypischen Geschwafel. Deutschland werde schon sehen, was passiere, wenn die Türken unsere Mercedes Busse nicht mehr kauften. Der Krieg, welcher auch immer, sei auch nicht mehr weit. Bevor es eskaliert, kommen wir an. Darüber scheint auch Mustafa mehr als glücklich, er wurde zuletzt mehr als schweigsam.
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Das Hotel selbst steht leer. Wir sind wirklich ganz allein. Beinahe Trauer liegt in Mustafas Blick, als ich ihn darauf anspreche. Ganz offensichtlich ist es seine Herzensangelegenheit, so gepflegt, wie hier alles ist. Booking Bewertung bei 9,1! Trotz mangelnder Belegung, ist die Sauberkeit beinahe klinisch, die Tische gewischt, der Garten gepflegt, die Hecken gestutzt, die Rosen gepflanzt. Xenia raunt mich an, die Menschen nicht mehr darauf anzusprechen, das bringe sie doch nur in Verlegenenheit. Recht hat sie ja, auch wenn die Frage unter den Nägeln brennt.
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Der nächste Tag beginnt heiß und wird noch heißer. Die Luft ist trocken, die Sonne brennt. So sei das hier im Inland. Aber das wäre immer noch besser als die langen Winter, erfahren wir. Lange Stöcke markieren die Straßen, mehrere Meter Schnee seien keine Seltenheit. Da nehme man doch mit den kurzen Sommern Vorlieb. Auf trockenen Feldern gedeiht das Korn. Unwirklich weht es im spärlichen Wind. Wir sind verhältnismäßig früh auf den Beinen. Gemessen am gestrigen Tag und den Temperaturen natürlich. Die größte Hitze wollen wir im gutgepflegten Hattusa Museum überstehen, bis wir uns schließlich gegen 2 zurück auf die Straße trauen. So der Plan.
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Schon seit Jahrtausenden besiedelten Menschen das heutige Anatolien, doch waren es die stolzen Hethiter, die die erste Hochkultur errichteten und die ersten Städte gründeten. Sie regierten einst vor etwa 3000 Jahren ein Reich von Syrien bis Südosteuropa. Im Laufe der Zeit eroberten sie Babylon und überfielen mehrfach die Ägypter. Auch waren sie die erste Hochkultur, die eine Keilschrift entwickelten. Die noch gut erhaltenen Tontafeln konnten so die Geschichte, Gesetze als auch Geschehnisse des alltäglichen Zusammenlebens überliefern. Wenn auch nur wenige Bauwerke die Zeit und die folgenden Kulturen überstanden, so ist deren überliefertes Vermächtnis nachwievor lebhaft und nachvollziehbar.
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Gegen 2 glüht die Landschaft, das erste Eis kaufen wir gern beim dankbaren Händler um die Ecke. Motivation und Gedankennahrung, Vorbereitung für das Erklimmen des Hattusahügels. Wie immer, musste die Hauptstadt des damaligen Reiches auf einem Hügel errichtet werden. Nach und nach erklimmen wir Tor um Tor. Löwentor, Sphinxtor, Königstor, noch ein Tor. Viel ist freilich nicht erhalten nach über 4000 Jahren. Am kleinen Löwentor rastet ein alter Mann, mit dem wir uns prächtig auf deutsch verständigen können. Zeitlebens habe er für die Deutschen gearbeitet, die hier archäologische Ausgrabungen vorgenommen hatten. Unsere Blicke folgen seinem Finger, der in die weite Landschaft zeigt. Er erklärt uns die ausgeklügelten Bewässerungssysteme, zeigt uns die Grundrisse hunderter Tempel und den Verlauf der alten Stadtmauer. Viel sehen können wir ja nicht, doch atmen wir sie, die Geschichte und die Zeit. So machen wir uns auf, das letzte Stück zu erklimmen. Oben angekommen, rasten wir unter einem der wenigen Bäume. Es dauert nicht lang, bis sich zahlreiche Türken unter dem spärlichen Schatten versammelt haben. Zum Feiertag haben nicht wenige die Liebesgeschichte zum Thema erhoben, so befahren sie nun das Gelände in ihren Autos. Man ist freundlich interessiert, ohne uns auf den typischen Smalltalk zu reduzieren. Aus dem Nichts reicht man uns einen reich gefüllten Teller mit Sarmas und Brot. Die mit würzigem Reis gefüllten Weinblätter sind sicher die besten, die wir bis dahin gegessen haben. Dankend genießen wir. Bis wir die weiter abgelegene Bestattungsstelle Yazilikaya erreichen, ist es kurz nach 6 und wir durchnässt. Bei einem gemütlichen Çai verschnaufen wir und sinnieren mit einem Deutschtürken über sein neuerliches Leben in Antalya. Da es nicht viel Neues aus unserer Sicht zu erfahren gibt, begehen wir die Grabstätte, die vorallem mit ihren Reliefs punktet. Ein langer Tag geht mit unserem anschließenden Rückweg zu Ende.
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Wie schon zwei Tage zuvor, schaffen wir es irgendwie nach Ordu an die Schwarzmeerküste. Diesmal ist es wesentlich später, umso dankbarer sind wir darüber, das Birol, unser Gastgeber in Ordu, tatsächlich noch wach ist. Vom Dorf Bogaskale fuhren wir zunächst in die nächstgrößere Kreisstadt um an einer Raststätte einen Busfahrer um Mitnahme zu bitten. Dieser fuhr dann wieder bis zur nächstgrößeren Stadt, bei der wir nach einigem Erklären zwei Tickets für unbesetzte Plätze nach Ordu ergattern konnten. Diese hatte uns der Ticketverkäufer unter der Hand beim Busfahrer organisieren können, noch bevor dieser überhaupt an unserem Terminal ankommen sollte. Uns sollte es recht sein, genauso wie unsere ständige Neuverteilung im Bus mit jeder neuen Haltestelle. Da wir in der Hektik noch nichts hatten essen können, bitten wir Birol, uns irgendetwas zu organisieren. So überrascht er uns mit Köfte und Brot und interessanten Gesprächen über die neuerliche politische Lage in der Türkei. Dabei verständigen wir uns durchweg auf Deutsch, da Birol viele Jahre als Bauleiter in Westberlin und München gearbeitet hatte. Sichtbar stolz berichtet er uns von seiner Tochter, die mit 28 Jahren ein großes Architekturbüro in Istanbul leite und dahingehend von ihrem Studium in Bologna und Bosten profitiere.Überhaupt zeugen seine Ansichten von einer freien, modernen türkischen Gesellschaft. Mit Graus berichtet er von den neuerlichen Entwicklungen, hat aber, wie so viele, die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Denn wir sind uns einig, dass das kürzliche Votum eben auch die Uneinigkeit der Gesellschaft zeige und die Opposition, wenn auch auch stark diskriminiert, bei weitem keine Minderheit sei. So versuche er, eine neue Partei oder Bürgerbewegung zu gründen, die die Umkehr eines gefälschten Votums zum Ziel habe. Ob das denn nicht gefährlich sei, fragen wir. Nun, in gewisser Weise schon. Allerdings dürfe man nicht unterschätzen, wie groß die Opposition gegen Erdogan inzwischen sei. Mit jeder verbotenen Partei, jeder zurückgedrängten Nachricht, gelte es zwei neue zu gründen. Das System zu zermürben. Die Türkei sei ja schon immer ein genauso vielfältiges, wie politisch zerstrittenes Land gewesen. Und genauso, wie es die AKP einst schaffte, verschiedene Bewegungen zu einen und einen spürbaren Fortschritt zu erzielen, habe Erdogan durch sein Votum erst kürzlich die Opposition geeint. Das sei vor ihm so auch noch keinem gelungen. Außerdem könne er ja nicht jeden einsperren! Mit jedem Menschen, der ohne Verhandlung inhaftiert würde, erhöhe der neuerliche Sultan den Widerspruch. Denn den meisten Türken sei die Familie dann doch ein wenig wichtiger, als die Politik. Wir bewundern den Mut dieser Menschen, obgleich wir glauben, dass das türkische Gemüt keine friedlichen Revolutionen zulässt. Doch wenn wir überhaupt glauben können, dass eine Umkehr möglich ist, dann eher jetzt als später.
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Wir versuchen uns Tickets in Ordu zu organisieren. Die Weiterfahrt in Richtung Georgien soll nun doch langsam wieder im gewohnten Ablauf stattfinden. Auf dem weg in das 14 km entfernte Stadtzentrum werden wir von einem freundlichen Lehrer mitgenommen. Auf der Rückbank hat es sich der Teufel persönlich gemütlich gemacht. Dieser hat heute die äußere Form eines vierjährigen Mädchens angenommen. Der Lehrer warnt uns vor, seine Tochter sei, bei aller Vorsicht, ein wenig verrückt. Er sagt es mit dem entschuldigenden Schmunzeln eines liebenden Vaters. So versucht er alles, um sie ruhig, nein, zufrieden zu stellen. Das Radio wird so laut gedreht, dass man sich nicht mehr unterhalten kann. Die Sender werden gewechselt. Das Wort wird uns allen zwischenzeitlich verboten. Als Xenia aufmunternd nach dem Namen des Mädchens fragt, wird sie geschlagen. Da gibt's auch nichts zu lachen! Wenn sie könnte, würde sie uns rausschmeißen. Wir bewundern den Mut des Vaters, uns überhaupt mitgenommen zu haben. Wer weiß schon um die Konsequenzen, die er bei Ankunft zu befürchten hat.
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Denn die Türken lieben ihre Kinder! Nicht nur in der Zahl, sondern vorallem individuell. Dies scheint eine Erziehung generell zu verbieten. Besonders Kinder im Vorschulalter sind deshalb beinahe alle Terroristen. Es ist ja nicht so, dass wir auf unseren Reisen vorrangig die unterschiedliche Erziehung bewerten. Fallen uns aber ausdrücklich unerzogene Kinder auf, müssen sie schon wirklich böse sein. In einer Promenade mit mehreren Hunderten Menschen, gibt es also mindestens 10 Mütter mit Kindern im Problemalter. Von denen rastet immer irgendwo eines aus. Will etwas haben, oder etwas nicht, etwas gleich, oder später. Jedes Fehlverhalten wird umgehend sanktioniert. Wenn die kleinen Teufel dann wieder lieb sind, werden sie mit Liebe überschüttet, so wie nur türkische Mütter es können. Die Busfahrten gestalten sich genauso, sind sie ja nachvollziehbar eh schon eine Belastung für die Kinder. Doch in einem Bus mit 60 Menschen, sind statistisch 30 Frauen dabei, 15 davon haben Kinder. 10 davon sind klein, 5 sehr klein. Von denen schreit immer eines... Dann setzen wir uns wieder unsere Kopfhörer auf und träumen von asiatischen Verhältnissen, wo die kleinen Passagiere oft über Fremde hinweg durch den ganzen Bus gereicht werden. Und die sind, welch Überraschung, beinahe alle artig.
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So erreichen wir am nächsten Tag Ayder in den pontischen Alpen, kurz vor der georgischen Grenze. Ein Ort wie in Mitteleuropa, verfeinert mit der türkischen Kultur. Aufgrund des starken Zustroms von Arabern, die in den heißen Sommermonaten die Kühle ausländischer Gebirge suchen, ist es recht teuer hier. Glücklicherweise haben wir dennoch ein günstiges Zimmer unter einfachsten Bedingungen in einer alten Berghütte gefunden. Wir folgen Fatih vom Busbahnhof und biegen auf einen kleinen Pfad abseits der Hauptstraße ein. Nach nur wenigen Metern finden wir so unser Idyll vor einer saftigen Wiese neben einem rauschenden Gebirgsbach. Wir werden umgehend der Tese vorgestellt, Fatihs Tante, die uns nach wenigen Minuten aufnimmt, als wären wir in Verwandtschaft verbunden und uns danach reichlich bekocht. Eigentlich heißt sie ja Rabia, aber das stört hier keinen. Stattdessen nennt man sie kollektiv Tese, was einfach nur Tante bedeudet.
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Am folgenden Morgen herrscht in der Küche helles Gelächter. Die kleine Asya möchte ihr Frühstück nicht essen, zumindest nicht das, was sie sich zuvor selbst auf den Teller gelegt hat. Freundlich aber bestimmt weist sie Tese zurecht, dass sie natürlich aufessen müsse, das Essen komme ja nicht von irgendwoher. Mit der ganzen Eloquenz einer Vierjährigen versucht diese der Situation zuerst durch Ausreden, dann durch Ignorieren und später durch Anschuldigungen zu entgehen. Stets begleitet vom lauten Lachen der gesamten Familie, die sich in der wohnlichen Küche eingefunden hat. Wir verstehen natürlich nichts und folgen dennoch gespannt dem freundlichen Miteinander. Ab und an übersetzt Fatih die gelungensten Floskeln. So breche ihr Tese mit ihrer Unnachgiebigkeit das Herz. Da werde sie schon sehen, was sie davon habe. Wir verlassen die Familie und wollen nach Kavrun, das einsam weiter oben in den Bergen liegt. Von dort aus wollen wir weiter durch die Kaçkar Berge wandern. So tuckern wir über Stock und Stein dem Ziel entgegen. Die Straße verdient schon nach wenigen Kilometern ihren Titel nicht mehr. Tiefe Schlaglöcher pflastern den Weg, der zudem immer steiler in die Höhe führt. Das jedoch scheint kein Grund zu sein, sie nicht doch mit Transportern zu befahren. Der junge Fahrer hetzt sein Gefährt ohne Rücksicht die Berge hinauf, scheint das sensible Spiel mit Kupplung und Gas noch nicht verinnerlicht zu haben. Ab und zu raunt ihn sein offensichtlich erfahrenerer Meister als Beifahrer ins Gewissen. In seiner Um- und Vorsicht fährt sich der Junge ein ums andere Mal fest, muss zurücksetzen, es erneut versuchen. Viel Zeit hat er ja nicht, die anderen kommen schon. Die Strecke scheint nur wenige abzuschrecken. Im Zweifel fährt der Türke immer noch mit dem eigenen Auto, und sei es ein Kleinwagen. Vollbeladen, polternd und laut hustend, schaukeln sich die Vehikel in die Höhe und verlangen sich als auch ihren Fahrern alles ab. Wir haben zu diesem Zeitpunkt schon aufgehört, zu sehr auf die Piste zu achten. Die erscheint uns zunehmend wie eine Allegorie von Mensch und Maschine gegen die Natur. In einer Spitzkehre wechseln sich die Fahrer ab. Die Löcher haben vorerst gesiegt, der Azubi kommt nicht mehr weiter und übergibt an den Meister. Der holt einmal kräftig aus, lässt den Motor laut heulen und springt mehr als dass er fährt durch die mit Schlaglöchern übersähte Kehre. Weiter geht's! Schon bald sind wir an der Baumgrenze. Der ältere Fahrer hält, um das Kühlwasser nachzufüllen. In einem lichten Moment schleicht sich der jüngere Fahrer wieder an das Steuer, will wieder lernen. Dem älteren soll's recht sein, dem Anschein nach ist es nicht mehr so weit. Wieder steigen wir immer höher, bis sich vereinzelt der Schnee neben der Straße häuft. Das Ziel ist in Sicht und doch werden wir langsamer, der junge Fahrer flucht. Hat er aber schon zuvor. Jetzt schaut der Alte und flucht auch. Kein gutes Zeichen. Er geht hinaus und bittet die anderen Mitgereisten um Wasser. Ein letzter Gnadenakt für das sterbende Gefährt. Der Reihe nach treten die Männer nach draußen, bestaunen das Malheur. Pikiert läuft der Junge schon zum Bach um Wasser zu holen, noch bevor ihn der Alte scheuchen kann. Der Motor läuft noch wie eine eins, als wolle er zeigen, dass er noch könne, nur scheint nichts mehr anzukommen. Ein verbrannter Geruch liegt in der Luft. Wir tippen auf Getriebe- oder Kupplungsschaden, also nichts, dass sich mit Liebe, Zeit oder herbeigeholtem Wasser plötzlich wieder reparieren ließe und setzen unseren Weg per Pedes fort.
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Der Ort Kavrun bietet außer der Höhe wenig Aufregendes. Die Kühe ziehen durch das Dorf, Wellblechdächer zieren schlichte Häuser, der Müll türmt sich an den Hängen. In der Ferne stehen die Gipfel über den Wolken, grüne saftige Wiesen kontrastieren die menschengemachte Hässlichkeit. Das Idyll, dass es hier sicher auch einmal gab, muss schon lange her sein. Das Leben auf den Almen gleicht in der Beschreibung der alten Bewohner derer, die wir von unserer heimischen Alpengeschichte kennen. Nur weniger hart war es wohl. Die Sommer heißer, die Winter weniger kalt. Das Meer in Sichtweite. Ein gesundes Leben, geradezu glücklich, habe man hier gelebt. Die Gärten immer voll, die Rinder fett, die Natur reich. Auch waren Wasser und Luft noch klar und rein, als die Menschen an der Küste schon von der Vergangenheit schwärmen mussten. Und alt seien die Menschen hier geworden, wie man uns schon hunderte Kilometer weiter westlich berichtet. Wie zum Beweis sei die Oma von Tese beachtliche 123 Jahre alt geworden. Ein Foto über dem Kamin belegt ein biblisches Alter, inmitten einer Gesellschaft einer anderen Zeit. Wir lassen das Dorf hinter uns und entfliehen dem neuerlichen Bergtourismus, den man im Tal noch verächtlich mit Selfietourismus betitelte. Schauen zurück auf die improvisierten Terassen, die ihren Namen nicht verdienen. Berg hoch, Foto, Berg runter. Am besten im eigenen Auto, nein, noch besser im Mietwagen. Der ist bei den hiesigen Straßen, nein Löchern, nach einem Jahr und zwanzig Anmieten später vermutlich eh hinüber. Aber die Araber zahlen es. Früher hätte es beinahe ausschließlich Independent Tourismus gegeben, keine Touren, wenig Straßen, noch weniger Motoren. Da waren auch noch die Europäer gekommen, die hätten ein Auge für so etwas. Da habe man sich über die Gäste noch freuen können. Türken aus dem Inland, oder gar Araber - vor 20 Jahren eine ferne Utopie. Nun drängen sich die gebuchten Touristengruppen in die Täler und von dort auf die Plateaus. Die brächten die Autos, und diese die Straßen. Oder umgekehrt, so genau wisse das schon keiner mehr.
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Immer weiter führt uns der Weg das Plateau hinauf, bis Kavrun außer Sichtweite gerät. Man wähnt sich alsbald in einer anderen Zeit. Sei es vor 100 oder vor 1000 Jahren, wesentlich anders können die Almen nie ausgesehen haben. Ein verrostetes Eisentor scheint noch das neuzeitlichste Element auf über 3000 Metern. Zu Mauern aufgetürmte Steine  begrenzen die Weiden, die Rinder gehen dennoch wohin sie wollen. Von den Hügeln behalten die Schäfer den Überblick, rufen, treiben oder gestikulieren die Kühe in die richtige Richtung. Wohin sollen sie auch ziehen, hier oben.
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Seit einigen Minuten laufen wir mit Einheimischen, die Jungen top ausgestattet, ihre Eltern wie eh und je. Turnschuhe gegen Sandalen, der Weg sieht nach keinem von beidem aus. Freundlich bietet man sich gegenseitig Essen an, motiviert sich für die letzten Meter. Es tut gut zu sehen, dass Nicht nur wir uns schleppen. Oben angekommen rauschen die Bäche, die Wiesen laden zum Liegen ein. Eine Szenerie, wie sie universell in den Bergen zu finden ist. Das Gefühl von der Größe der Welt und der Winzigkeit des Menschen scheint jeden höheren Berg zu umwehen. So liegen wir und atmen, spüren unsere Leben. Die Gletscher in Sichtweite türmen sich die Gipfel majestätisch, wie in den Dolomiten. Wenn auch nicht ganz so dramatisch. Die Gruppe macht sich derweil auf, auch noch den Gletschersee zu bestaunen. Der erscheint mir angesichts der Wildbachdurchquerung bei anschließend identischer Aussicht wenig attraktiv, während Xenia schon potentiell begehbare Stellen prüft. Am Ende entscheiden wir uns für warme Füße und den gemächlichen Rückweg.
Auf halber Strecke läuft uns eine Schar Gipfelstürmer in die Arme. Die Eispickel am Rucksack verraten ihr Vorhaben. Ihr Anführer, hat wie so viele in Deutschland gearbeitet, spricht bestes deutsch. Der lustige Zeitgenosse schwadroniert über seine Arbeit, und seine Rückkehr in die Türkei, während seine Kameraden auf den Weitermarsch drängen. Wir verabschieden uns dreimal, bis er es schließlich wirklich schafft. Die Zeit drängt, der Berg ruft...
Wieder in Kavrun beschließen wir das Material, unseren Geldbeutel als auch das Gewissen zu schonen und die gut 10 Kilometer zurück zu laufen. Aussichten erwarten wir eh keine mehr. So laufen wir und laufen, durchstoßen die dicken Wolken, die sich in den Wipfeln der höchsten Bäume verhangen haben. In den Hängen verdichten sie sich, sparen Regen, der erst in der kühleren Nacht über den Tälern niedergehen soll. 3 Stunden, 1 Mitnahme und 1 spontanes Picknick am Straßenrand bei einer Bremer Familie später erreichen wir endlich wieder unsere Gastfamilie in unserem Gasthaus. Es ist schon längst Abend, beinahe Nacht. Unsere Angst, das Abendessen zu verpassen, weil wir uns dafür anzumelden versäumten, stellt sich als unbegründet heraus. Tese erwartet uns bereits, hat vorsorglich für uns mitgekocht. Mütterlich weist sie uns einen Platz an ihrem Tisch zu, selbstverständlich, mit einem Strahlen im Gesicht, als habe sie das ganze Jahr nur auf uns gewartet. Obwohl wir es aus eigener Erfahrung kennen, wissen auch wir nach wie vor dieses Gefühl zu schätzen, das nur wenige Menschen wahrhaft authentisch vermitteln können. Einem Gast das Gefühl zu geben, man habe sich nur auf ihn gefreut und genau jetzt sei der passende Zeitpunkt, dass er einmal vorbeischaue. Dabei geht ihr kein Gang, kein Griff, leicht von der Hand. Wir beobachten sie bewundernd, bestimmt und überlegt wählt sie jede Aktion. Eine Frau wie ein Baum, inzwischen über 60, die sich auch von einer Hüft OP nicht in die Knie zwingen lässt und die vehement jede unnötige Hilfe ablehnt. Während wir auf das Essen warten, lernen wir Bülent und Fatma kennen, die Eltern von Asya. Zurückhaltend sitzen sie in ihrer Ecke der Küche, während sich Asya ganz dem Ideal eines Nesthäkchens gleich, ihre Portion väterliche Liebe abholt. Wiedereinmal unterhält sie den ganzen Raum.  In der Zwischenzeit tischt uns Tese so lecker auf, wie schon ewig nicht mehr. Kichererbsen in einer deftigen Hühnerbrühe, mehr Ragout als Suppe, gut gewürzt mit heimischen Kräutern und sparsam garniert mit feingeschnittenem Lammfleisch. Schlicht fantastisch! Wir loben ihr Werk, ich offenbare meine Fachkenntnis und maße mir an, sie zu bewerten. Sie freut sich, übersetzt Fatih, ihre Kochkunst gehe aber weit über die einer Hausfrau hinaus. Wir schmecken es! So bewerte und bekoche sie schon Gäste seitdem sie ein Kind sei. Im folgenden Gespräch klärt uns Fatih über die Anfänge des Tourismus in der Region auf, auch Bülent offenbart sich als ein äußerst vielschichtiger, reflektierter Gesprächspartner.
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Man kommt auf Erdogan zu sprechen, in der Türkei der Jetztzeit ein im Dialog stets automatisches Thema. Sie mögen ihn nicht, verabscheuen ihn regelrecht. Nicht einmal wegen seiner neuerlichen Allüren, sondern weil er die Region hier so verändert habe. Er verkaufe es als Fortschritt, nur dass sie niemanden nach Fortschritt gefragt hätten. Baumaschinen, Baustellen, das habe er ihnen gebracht. Ihnen mehr oder weniger ihr Land genommen. Den Investoren habe er die Alpen versprochen, inklusive der Profite. Die Araber sind schon da, mehr sollen folgen. Viel mehr. Hotel um Hotel entstünde, ohne Plan, ohne System. Das heute Gesehene lässt uns nicht zweifeln. Von Nachhaltigkeit keine Spur. Als wolle man aufholen, was auch in den Alpen 100 Jahre gedauert hatte. Bülent nickt bedenklich. Wer weiß, wie lange sie sich noch halten könnten. Den Investoren erscheinen sie doch jetzt schon wie landbesetzende Indianer, die es zu vertreiben gelte. Für die Regionalpolitik seien sie Unwillige, Rückständige, die sich mit der Entwicklung nicht anfreunden könnten. Und dem ganz Oberen wären sie sicher Terroristen, ein vielgebrauchter Begriff heutzutage. Noch scheint er sie nicht auf dem Schirm zu haben.
Die Tese hat sich derweil zurückgezogen, vermutlich hat sie das folgende Gespräch schon hunderte Male geführt. Dabei braucht sie weder Aufmerksamkeit noch Mitleid. Bülent offenbart seine Tante als lokale Berühmtheit. Mindestens. Einst habe es ihr gereicht, da habe sie sich den Baumaschinen in den Weg gestellt. Auch das Dorf stand hinter ihr. Denn sie vertrete ja nicht nur die lokale Bevölkerung, sondern auch den Volksstamm der Hemşin, die einst von den Armeniern abstammend in die Berge zogen. Sie leben den Islam, wenn auch weniger strikt und haben darüberhinaus viele eigene Traditionen. Damit habe hier auch niemand ein Problem, sagen sie, sofern sie die Touristen in der Rolle einer Attraktion empfingen und in Trachten für deren Fotos posierten. Ihre teilweise Selbstbestimmung wurde einst mit Waffen errungen und wird ihnen nun mit Schaufeln genommen. So saßen sie, protestierten und blockierten. Dann sei das Militär angerückt, auch denen habe sie sich in den Weg gestellt. Auch oder gerade weil sie drohten auf sie zu schießen. Sie schossen nicht, Tese ist noch da, genauso wie die Bagger. Vermutlich haben die Bagger gewonnen. Die Einheimischen hingegen hatten wohl schon verloren, bevor die Bagger kamen. In irgendeinem Beschluss, auf irgendeinem Schreibtisch. Die Feder ist mächtiger als das Schwert, heißt es in anderem Bezug. Heute mehr als je zuvor.
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Zudem beschließen wir unsere nächste Wanderung, eigentlich ja die einzige, die uns bei einem Tal mit einem Eingang und exakt zwei Ausgängen bleibt. Die angekündigte Mittagshitze wollen wir großzügig abpassen und erst gegen Abend nach Hüser gelangen. Ein weiterer Ort, auf einer weiteren Alm, von dem man den Sonnenuntergang als besonders malerisch erlebt. So vertun wir uns mit der Bearbeitung von Sevgis Ballonbildern, bis wir schließlich unsere Sachen packen und zum Dolmus aufbrechen. An der Station weiß keiner etwas von einem Dolmus, türkisch für Kleinbus, der uns nach Hüser bringen soll. Seltsam, hat doch Fatih höchstpersönlich noch vor einer halben Stunde mit selbiger Station telefoniert. Ungläubig wimmelt man uns ab, als fantasierten wir uns das besagte Ziel nur in unserer Einbildung zusammen. Bevor es eskaliert, bedeute ich Xenia zu gehen, weil wir in solchen Situationen mit der wachsenden Erfahrung eben schon geschult sind. Diese haben sich bisher noch nie derart aufgelöst, dass plötzlich doch noch einer weiß, was wir wollen. So ärgern wir uns wieder einmal darüber, dass man mitunter jegliches Mitdenken verweigert und setzen unseren Weg alleine fort. Wir denken uns, wenn wir nur die paar Kilometer bergauf zu dem Abzweig laufen, uns an die einzige Straße stellen, die nach Hüser führt, dann wird man als Vorbeifahrender unser Vorhaben schon erahnen können.
Die Hitze ist mindestens beachtlich, der Weg erwartungsgemäß steil. In einer bemerkenswerten Selbstverständlichkeit blockieren zudem die Araber die Wege, laufen zielgerichtet den Hang hinunter, so dass man schon wach sein muss, um mögliche Kolissionen zu vermeiden. Stets in der Erwartung, die vor sich laufenden Gruppen zu teilen, wie Moses das Meer. Wir stellen uns vor, was passieren würde, wenn man nicht reagierte. Es wäre die Sache nicht wert, auch wenn die selbsternannten Vorzeigemuslime am Ende jedes Klischee erfüllen, welches sie sich über die Jahre unserer eigenen Erfahrung nach aufgebaut haben. Selbst weltoffenen Menschen wie uns, fällt es schwer sie zu mögen.
Als wir die Gabelung erreichen, sind wir durchgeschwitzt. Noch bevor wir anständig verschnaufen können, wird uns die Mitnahme angeboten. Auf der Ladefläche eines Pickups, zwischen Schaufeln, Brettern und Ölkanistern bringen wir die erste Hälfte des steilen Anstieges hinter uns. Wir halten uns fest, wo auch immer wir können. So richtig können wir uns auch heute nicht für die Piste begeistern, die löchrig bergauf mäandert und nach deutschem Verständnis eher nicht für Touristen gemacht scheint. Aber wen kümmern schon deutsche Sicherheitsbedenken, wenn man sich dadurch einen steilen Aufstieg erspart. Da sind auch wir klassische Opportunisten! Zudem reisen wir im Zweifel lieber mit Autos, die für ein solches Terrain geschaffen wurden und einem Fahrer, der sich der Gefahren bewusst ist. Im Idealfall räumt er den Leben der Mitfahrenden einen höheren Stellenwert, als dem eigenen. Der Idealfall ist selten... In der Ferne färbt sich die Sonne schon ins rötliche. Die ersten schwarzen Schatten ziehen die Hänge hinauf, beinahe kann man sie dabei beobachten, die Geschwindigkeit der nahenden Nacht wahrnehmen. Hinter den steilen Felsen verdunkeln sich die Täler meist schneller, als deren Bewohnern lieb ist. So ist es, als reisten wir der Abendsonne hinterher, halten sie auf, mit jedem zurückgelegten Meter.
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Auf halber Strecke winkt uns der Fahrer hinaus, für ihn ist hier Schluss, auf einer Baustelle im Nirgendwo. Wir bedanken uns brav und schauen, wie weit wir noch laufen wollen. Da hören wir schon  wie von weiter unten das nächste Gefährt heranpoltert. Wieder einer dieser Tourentransporter von der Bauart eines Sprinters, top ausgestattet, lederbesesselt, überhaupt niegelnagelneu, wir fragen uns, wie lange noch. Zudem ist er gutgefüllt mit johlenden Türken. Auch er hält ganz selbstverständlich, bietet uns inmitten zahlender Touristen die kostenlose Mitnahme an. Die scheinen sich interessiert zu freuen, als könnten sie nicht glauben, dass man eine solche Strecke freiwillig zu Fuß zurücklegt. Wir wollen dem geschenkten Gaul nicht ins Maul schauen, überwinden uns und steigen ein. Es ist schon krass, wie man seine Vorsätze über Bord wirft, sobald eine Ersparnis winkt, denken wir uns, als der Fahrer schon nach wenigen Metern seinen Fahrstil offenbart. Mit Karacho jagt er den Sprinter um jede holprige Kehre, begleitet vom dankbaren Applaus der Mitgereisten. Stehenzubleiben oder gar zurückzusetzen scheint ihm ein vermeidbares Übel. Zu diesem Zeitpunkt habe ich meinen Blick bereits gesenkt und bete. Auch Xenia schaut im Zweifel lieber auf die Bergseite, das ist irgendwie motivierender. Als sich die erste Gelegenheit bietet, ohne sich als Angsthase zu offenbaren, steigen wir aus. Erklären, wir wollten ja noch zurücklaufen, da müssten wir nicht ganz so hoch fahren. Etwas misstrauisch lässt man uns gewähren, uns soll es recht sein.
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Die Sonne steht schon so tief, als habe sie es wirklich eilig. So bleibt uns am Ende nur eine gute halbe Stunde, die wir trotz der fantastischen Aussicht nur bedingt genießen können. Eine undefinierbare Minimückenart verdirbt uns den Augenblick, scheucht uns wild stechend über die Wiese. Zwei Almen weiter gab es am gestrigen Tag keinerlei dieser, an Sandflies erinnernden, Biester. So laufen wir, während die Blicke in die Ferne schweifen, fortwährend den Stichen davon, bis wir uns schlussendlich zum Rückmarsch entschließen. Es dauert keine halbe Stunde, bis wir in der einsetzenden Dunkelheit laufen. Dankbarerweise uns abermals die Mitnahme angeboten, diesmal von einem Fahrer, der seinen Titel verdient. Umsichtig umschifft er jedes Schlagloch, bremst schon vor der Kurve und fährt sogar mit Motorbremse. Man möchte ihm danken, gratulieren und alle bisherigen Fahrer der letzten Tage zur Ausbildung schicken. Am Ende besteht er darauf, uns bis zur Haustür zu fahren, obwohl wir uns während der Fahrt kaum verständigen können. Als wir zurück in unsere Bleibe kommen, ist nur noch Fatih da. Er erklärt uns, dass Bülent, Tese, wie auch alle anderen unsere Idee zum Sonnenuntergang nach Hüser zu fahren, derart großartig fanden, dass sie uns nachgereist seien. Wir müssen sie übersehen haben, als wir gerade vor den Killermücken geflohen waren, erklären wir. Ach ja, davor hätte er uns warnen sollen, lacht er, während wir uns bereits manisch jucken.
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Es ist bereits tiefste Nacht, als die restlichen 6 wieder im Haus eintreffen. Erstaunt fragen sie, wo wir gewesen seien. Gegenseitig erzählen wir uns unsere Geschichten. Auch sie hätten schlussendlich vor den Bergmücken kapituliert. Davor allerdings wäre noch Platz für Herkunft und Kultur gewesen, wie uns Bülent mit einem kurzen Mitschnitt belegt. Darauf stimmen Tese und ihre Schwester traurige Lieder aus längst vergangenen Zeiten an, wie sie es vermutlich früher öfter taten, als die Region noch nicht zur Attraktion verkommen war. Müde zieht sich Tese nach dem Essen als erste zurück, während wir mit Bülent weiter über unser aller Lieblingsthema philosophieren. Heute geht es um Erdogans Wählerschafft in Deutschland als auch um dessen unsägliche Hitlervergleiche. Ein unerschöpfliches Thema! Offen beklagt er vorallem Erdogans Annulierung der Politik Atatürks, die nach seinem Verständnis nicht nur innerhalb des Nahen Ostens seinerzeits sehr fortschrittlich gewesen war. Es sei der Grundstein gewesen zur Abgrenzung der islamistische beeinflussten Politik der Nachbarländer, allen voran der Araber. Sich offen der im Koran propagierten Staatsform zu wiedersetzen, sei ein hart erkämpfter Meilenstein gewesen, der nur mit den damals üblichen Mitteln zu erreichen gewesen sei und der nun bereitwillig aufgegeben würde. Diese Hörigkeit gegenüber der nationalen Politik sei aber allgemein ein Problem seines Volkes. Die Form stünde hierzulande eben oft vor dem Inhalt, vorallem heutzutage, und Demokratien seien nunmal, selbst heutzutage immer noch die Ausnahme in der muslimischen Welt. Wieder bewundern wir Bülents offene, differenzierte als auch angstfreie Meinung, die unserer eigenen zur aktuellen türkischen Politik zwar keinerlei neue Facette hinzuzufügen vermag, aber dennoch klar den Protest artikuliert. Bei uns mag man ja glauben, dass schon alle Gegner in türkischen Gefängnissen sitzen und kein öffentlicher Wiederspruch mehr geduldet wird.
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Als wir am Ende das Gesprächs auf die Uhr schauen, ist es halb drei. So richtig Lust auf Abschied scheint keiner von uns zu haben. So verständigen wir uns darauf zu verlängern, den Abschied zu vertagen. Fatih freut sich. Morgen werde es voll, prophezeit er. Wir sind gespannt. Tatsächlich sehen wir am nächsten Abend mehr Menschen, die nicht Fatih, Bülent oder Tese heißen. Es herrscht ein buntes Treiben zwischen den anderen zugereisten Türken. Darunter eine kleine Reisegruppe, eine Reporterin, die für Arte in der Gegend recherchiert und einem französisch türkischen Pärchen, das zusammen mit den (Schwieger-) Eltern die ehemalige Heimat bereist. Angeregt unterhält sich ein jeder abwechselnd, dass am Ende niemand mehr so genau weiß, was mit wem besprochen wurde. Daran sei auch der Raki schuld, den Bülent anlässlich seines geheimgehaltenen Geburtstages aus dem Nichts organisiert hatte. So kommen wir an unserem letzten Tag doch noch in den Genuss, des typisch türkischen, schweralkoholischen Getränks, das bekannt ist, die Gespräche zu heben und durch die verschiedensten Themen mäandern zu lassen. Als uns kurz die Gespräche auszugehen scheinen, holt Bülent noch schnell den Tulum heraus, die türkische Version eines Dudelsacks. Man offenbart uns Bülent als einen Meister des uralten Hirteninstruments, sowohl im Spiel als auch in der Herstellung. Gebannt lauscht die Gruppe dem schnellen Spiel seiner Finger. Alte Klänge, die ein wenig Nostalgie im Wandel der Zeit darstellen. Wiedereinmal haben wir es genossen, wiedereinmal fällt uns der Abschied so schwer. Weniger vom Land, als vielmehr von seinen Bewohnern, die wesentlich vielschichtiger sind, als es uns die aktuellen Geschehnisse glauben machen wollen. Die türkische Herzlichkeit hat uns überwältigt, will uns halten. Für's erste müssen wir weiter, doch erscheint uns die Wiederkehr sicher, in eine Türkei, die dann hoffentlich einer helleren Zukunft entgegen blickt.
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